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Forschung unter Palmen

In meiner Reihe „How to PhD“ möchte ich euch verschiedene Facetten des Doktorand*innen-, oder allgemeiner, des Forschungslebens vorstellen. Außenstehende können sich meist wenig darunter vorstellen, wie Forschen eigentlich funktioniert. Das möchte ich ändern! Der Schwerpunkt in diesem Artikel: Warum Physiker*innen so viel reisen. Ihr wusstet nicht, dass Reisen in der Forschung überhaupt eine Rolle spielt? Ja, und zwar so viel, dass ich 2020 einen Vorsatz hatte: Ich wollte weniger Reisen. Da wir von 2020 reden könnt ihr euch sicher vorstellen, wie sehr ich diesen Vorsatz eingehalten habe.

Warum hatte ich diesen Vorsatz? Nun, 2018 sah mein Jahr so aus:

Reiseplan 2018
Mein Reiseplan 2018. Forschungsaufhalte in Blau, Konferenzen in Grün, privater Urlaub in Rot und Anderes in Gelb.

Über die Hälfte meiner Zeit war ich unterwegs. „Paris? Brasilien? Kreta? Wow, wie aufregend!“ Ich will nicht lügen: Ja, es ist aufregend. Mit 18 habe ich Deutschland das erste Mal verlassen, für eine Klassenfahrt nach Amsterdam. Kein Familienurlaub in Dänemark, kein Schüleraustausch in Frankreich – nichts. Die nächste Reise kam erst vier Jahre später. Da bin ich auch das erste Mal geflogen. Nie hätte ich gedacht, dass ich später einmal so viele spannende Orte besuchen würde – und dass ich dafür auch noch bezahlt werden würde!

Wer an Physik denkt, denkt bestimmt nicht direkt an ein Jetsetter-Leben. Sollten Physiker*innen ihre Tage und Nächte nicht im Labor verbringen? Jain. Insbesondere Experimentalphysiker verbringen viel Zeit im Labor, aber als theoretische Physikerin kann ich im Prinzip von überall aus arbeiten. Doch für beide gilt: je weiter man in seiner Karriere kommt, desto mehr ist man auf Achse. Die zwei Hauptgründe für Reisen sind a) Konferenzen und b) Forschungsaufenthalte.

Konferenzen

Auf Konferenzen (Tagungen, Workshops, Meetings, …) kommen Wissenschaftler*innen zusammen, um sich über ihre Forschung auszutauschen und sich weiterzubilden. Es gibt sie in verschiedenen Größen und unterschiedlich starker Spezialisierung. Das Spektrum reicht vom „internationalen Workshop über stark wechselwirkende, offene Vielteilchensysteme mit Schwerpunkt auf der Physik von Rydberg-Atomen“ mit 43 Teilnehmer*innen bis zum Frühjahrsmeeting der American Physical Society mit gut zehn Tausend Teilnehmer*innen.

Workshop in Finnland
Workshop auf einer Insel im finnischen Schärenmeer

Physik auf dem Fahrrad

Wer gern die Welt sehen möchte, wird Konferenzen lieben! Wir Physiker*innen verbringen viel Zeit in dunklen Büros und Laboren. Als Ausgleich finden viele Konferenzen an traumhaften Orten statt. Die Kaffeepause ist viel angenehmer, wenn sie auf einer Terrasse mit Meerblick stattfindet. Häufig wählt das Organisationsteam einen ihrer Standorte als Veranstaltungsort aus. Doch wenn im Orga-Team die Uni Stuttgart und die Universität von Recife vertreten sind, dann freuen sich viele, wenn die Konferenz am Strand von Brasilien stattfindet. Und wenn man schon einmal da ist, kann man direkt etwas Urlaub dranhängen. Einige wenige Workshops sind sogar mobil. Mein allererster Workshop fand auf dem Fahrrad statt: Wir sind fünf Tage lang mit knapp 20 Physikerinnen (nein, ich habe nicht das Sternchen vergessen) durch das finnische Schärenmeer gefahren. Diskussionen fanden auf dem Rad, auf der Fähre, beim Frühstück und nach dem Abendessen statt.

Aber um eine Sache klarzustellen: Ich rede nicht von Stränden und Inseln, um mit meinem Weltenbummlerleben anzugeben. Ich möchte erzählen, wie Forschung funktioniert und was dazu gehört, wenn man eine Karriere in der Forschung in Erwägung zieht. Außerdem kann ich mit den Strandbildern vielleicht das Vorurteil abbauen, Physiker*innen wären leichenblass und allergisch gegen Sonnenlicht. Und sozial inkompetent sind sie auch in den wenigsten Fällen, denn eines der Hauptziele von Konferenzen ist das klassische Networking.

„Networking“ auf einem Workshop

Neue Freunde bei Bier und Bretzeln

Häufig fährt man allein zu solchen Veranstaltungen, doch wer möchte findet schnell Anschluss. Schließlich geht es allen anderen wie dir und meist findet man bereits in der ersten Kaffeepause seine neuen Freunde für die kommende Konferenzwoche. So habe ich viele Bekannte auf der ganzen Welt gefunden, auch wenn sie – zugegeben – häufig flüchtiger Natur sind. Doch für diese eine Woche verbringt man viel Zeit miteinander, denn bei Konferenzen gibt es viel soziales Programm abseits des Hörsaals: Bier und Bretzeln bei der Poster-Session, Konferenzdinner in ausgefallenen oder luxuriösen Restaurants, Sightseeing an historischen Orten, Kokosnüsse am Strand, oder Verkostung in einer Cachaça Manufaktur. Ist man andererseits mit Leuten der eigenen Arbeitsgruppe von der Heimatuni unterwegs kommt schnell Klassenfahrt-Feeling auf. Da in unserer Gruppe ein sehr freundschaftlicher Ton herrscht ist das in diesem Fall etwas Positives (denn in der Schule fand ich Klassenfahrten eher bescheiden).

Auf Konferenzen tummeln sich nicht nur Doktorand*innen, sondern auch Professor*innen. Auch sie müssen auf dem Laufenden bleiben und, noch viel wichtiger, Kontakte knüpfen und neue Forschungsprojekte planen. Ihr wärt überrascht, wie viel Forschung auf Wanderungen, bei Radtouren, oder beim Sightseeing ihren Anfang genommen hat. Und diese beiden Gruppen bleiben nicht unter sich, denn auf Konferenzen sind Hierarchien üblicherweise flacher als daheim. Ein Glas Wein mit einem der wichtigsten Forscher deines Gebiets am Pool? Kein Problem. Taxi teilen mit dem Gruppenleiter eines Max-Planck-Instituts? Warum nicht. Caipirinha mit der Professorin aus Spanien? Her damit!

Workshop auf Kreta
Networking-Area bei einer Konferenz auf Kreta

Volles Programm

Doch wer bei Konferenzen nun an Entspannung, Spaß und Urlaub denkt hat sich leider von meinen Lobgesängen täuschen lassen. Denn zwischen all diesen Aktivitäten warten noch täglich bis zu 12 Stunden Programm und wissenschaftliche Vorträge auf dich. Kaffeepausen werden zur Notwendigkeit. Ja, man lernt etwas und manche Vorträge sind sehr spannend. Doch manch andere sind staubtrocken, stocklangweilig und absolut irrelevant für das eigene Thema. Viel zu häufig sitze ich bereits nach der Titelfolie da und versteh nur noch Bahnhof. Der Strand vor der Tür mag ja schön sein, aber wenn man um 11 Uhr abends todmüde und leicht beschwipst von der Poster-Session ins Bett fällt hat man leider auch nicht viel davon.

Forschungsaufenthalte

Die Kontakte, die man auf Konferenz geknüpft hat, wollen auch mit Leben gefüllt werden. Forschung ist keine One-(Wo)men-Show, sie ist Teamwork. Oft arbeiten mehrere Arbeitsgruppen verschiedener Universitäten/Forschungseinrichtungen aus diversen Ländern zusammen. Ich zum Beispiel bin theoretische Physikerin und für ein Projekt kooperiere ich mit einer experimentellen Arbeitsgruppe aus Paris. Hierfür fahre ich regelmäßig dorthin, stelle mich ins Labor (und versuche bloß nichts kaputt zu machen), diskutiere mit den Leuten dort und lerne viel über experimentelle Methoden. Beide Seiten profitieren von solchen Kooperationen. Die Experimentatoren haben jemanden, der Simulationen durchführt und ihre Experimente optimiert, und meine theoretische Forschung wird aufgewertet, wenn sie in Experimenten verwendet wird.

Theoretisch kann man Diskussionen am Telefon, per Videokonferenz oder E-Mail führen, aber echter, menschlicher Kontakt ist unersetzlich. Eines meiner schönsten Forschungsergebnisse entstand aus einer Wette. Einer der Experimentatoren sagte: „Ich wette, du kannst nicht …“. Ich musste meine Ehre verteidigen und sagte ich könne. Und ich konnte. Jetzt ist dieses Ergebnis Teil einer gemeinsamen Publikation. Sowas passiert selten in einer E-Mail.

Es gibt noch andere Variationen von Forschungsaufenthalten, zum Beispiel die Konstellationen Experiment-Experiment oder Theorie-Theorie, manchmal auch Theorie-Mathe und ähnliche Exoten. Auch ohne direkte Kooperationen gehen Experimentatoren häufig auf Reisen, wenn ihnen notwendige Ausrüstung fehlt. Die wenigsten Unis haben eigene hochauflösende Mikroskope, Synchrotrons, Teilchenbeschleuniger, oder Teleskope, sodass die Experimentatoren Messzeiten an Großforschungseinrichtungen beantragen müssen.

Workshop in Brasilien
Workshop in Recife (Brasilien)

Forschungsaufenthalte haben ähnliche Vor- und Nachteile wie Konferenzen: Man lernt neue Leute, eine neue Stadt und eventuell ein neues Land kennen – meist intensiver als auf einer Konferenz, da Forschungsaufenthalte oft länger dauern. Doch du wirst eventuell regelmäßig aus deinem Umfeld herausgerissen, du bist an diesem neuen Ort, an dem du niemanden kennst, du verbringst einen bedeutenden Teil deines Lebens in Hotels und ernährst dich, wenn du keine Küche zur Verfügung hast, von Fastfood. Manchmal hat man Glück, findet schnell Anschluss, lebt in einer aufregenden Stadt und hat eine schöne Unterkunft. Manchmal aber auch nicht.

Zu viel des Guten?

Wie alles im Leben haben Dienstreisen ihre Vor- und Nachteile. Im Großen und Ganzen überwiegen für mich die Vorteile und ich neige dazu, jede Gelegenheit für einen Ausflug zu nutzen. Doch was im Einzelnen sehr viel Spaß macht, kann in der Masse zu unglaublichem Stress führen. 2018 habe ich über die Hälfte des Jahres nicht in meinem Bett geschlafen. Es gab Nächte, da bin ich aufgewacht und wusste nicht, wo ich bin. In diesem Jahr habe ich viel Zeit in schmutzigen Hotels, verspäteten Zügen, engen Flugzeugen und auf kalten Bahnhöfen verbracht. Es geht extremer: ich habe schon mit Leuten gesprochen, die auf dem Weg vom Flughafen zum Konferenzhotel ausgeraubt und mit dem Messer verletzt wurden. Das sind Einzelfälle, zu denen es auch auf privaten Reisen kommen kann, doch wer viel reist erhöht schlichtweg sein Risiko für solche Zwischenfälle.

Wo es hingeht kannst du dir nicht aussuchen, du hast allerdings die Möglichkeit Nein zu sagen. Niemand wird gezwungen und manche Leute verreisen in der Tat für nur eine Woche im Jahr. Man sollte sich das jedoch gut überlegen, denn all die genannten Punkt – Netzwerken, deine Forschung vorstellen, mit anderen Gruppen kooperieren – kurbeln deine Karriere an. Mein Reisepensum 2018 war überdurchschnittlich hoch und das habe ich mir ausgesucht. Ich bereue es nicht und habe viele schöne Erinnerungen gesammelt. Doch es war viel Stress und deshalb habe ich mir ständig vorgenommen weniger zu reisen. Das hat nie wirklich geklappt – und dann kam 2020.

Workshop in Marseille
Workshop in Marseille

Was die Zukunft bringt

Im März sind von einem Tag auf den anderen drei Konferenzen ausgefallen; nach und nach sind alle meine Pläne für das Jahr abgesagt worden. Seitdem stehen Online-Meetings auf der Tagesordnung. Gruppenmeeting, Konferenzen, Vorträge – alles online. Es ist anders, doch es funktioniert. Noch dazu bringt es viele Vorteile: keine Reisekosten, keine Umweltbelastung, besser für Wissenschaftler*innen mit Kind, Leute aus aller Welt können teilnehmen. Auch die Nachteile sind offensichtlich: echter, menschlicher Kontakt, Networking, zwangloses Plaudern in der Kaffeepause ist nicht mehr möglich. Die Pandemie wird den Wissenschaftsbetrieb höchstwahrscheinlich nachhaltig beeinflussen. Wie sehr genau bleibt noch abzuwarten. Doch so viel weiß ich: weniger zu Reisen stand 2021 nicht auf meiner Vorsatzliste – und wird es vermutlich auch eine ganze Weile lang nicht mehr.


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1 thought on “Forschung unter Palmen

  1. Dein Kalender sieht wirklich toll aus! Wie fandest du es in Recife? Ich finde Brasilien wirklich sehr schön und unterschätzt von vielen.

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