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Schrödingers Weihnachtspäckchen

Schrödingers Katze gilt als das Maskottchen und Wappentier der Quantenphysik. Spätestens seit Big Bang Theory ist sie auch in die Wohnzimmer von nicht-Physiker*innen getapst. Doch so beliebt sie auch ist, so wenig verstehen die meisten, was es damit eigentlich auf sich hat. Da Weihnachten vor der Tür steht und ich Tierversuche strikt ablehne, habe ich mich entschlossen, das ganze etwas anders aufzuziehen: Helfen wir dem Weihnachtsmann und finden heraus, ob ein Kind artig oder unartig ist.

Päckchen-Test
Die Ausgangssituation für den Päckchen-Test: Ein Kind sitzt unbeobachtet mit einem Weihnachtspäckchen in einem Raum. Ob das Kind artig oder unartig ist wissen wir nicht.

Stellen wir uns die folgende Situation vor: der Weihnachtsmann prüft wie jedes Jahr seine Artig-Unartig-Liste. Doch ein paar der Kinder sind schwer einer Kategorie zuzuteilen, weil sie beizeiten artig, doch manchmal auch ungezogen sind. Für diese Härtefälle hat sich der Weihnachtsmann einen Test überlegt. Er setzt das Kind zusammen mit einem Weihnachtspäckchen in einen Raum. Er sagt dem Kind, es solle warten bis er wieder da ist und dürfe das Päckchen nicht öffnen. Dann geht er hinaus und verschließt die Tür. Wenn das Kind artig ist, wird es brav warten und das Päckchen nicht anrühren. Ist das Kind jedoch unartig, wird es das Päckchen aufreißen. Sobald der Weihnachtsmann zurück kommt muss er also nur das Päckchen ansehen und weiß sofort, ob das Kind dieses Jahr Geschenke oder eine Rute bekommt.

Aber was, wenn das Kind weder artig noch unartig ist, sondern irgendwo dazwischen? Wenn das Kind gleichzeitig artig und unartig ist? Folglich muss in diesem Fall auch das Päckchen gleichzeitig offen und geschlossen sein. Wenn ihr jetzt denkt „Die spinnt doch“, dann seid ihr der gleichen Meinung wie Schrödinger. Denn Schrödinger wollte mit seinem Gedankenexperiment über die eingeschlossene Katze (das Päckchen) nicht etwa zeigen, wie cool die Quantenphysik ist – sondern wie absurd.

Superposition und Verschränkung

Ein Quanten-Kind kann nicht nur artig oder unartig sein, sondern beides gleichzeitig. Diese Überlagerung nennen wir Superposition. Was passiert jedoch, wenn wir das Quanten-Kind an einen großen Alltagsgegenstand koppeln, wie das Päckchen? Wenn das Kind halb artig und halb unartig ist, dann ist auch das Päckchen halb geschlossen und halb geöffnet. Der Versehrtheits-Zustand des Päckchens hängt vom Artigkeits-Zustand des Kindes ab – wir sagen dazu, das Kind und das Päckchen sind verschränkt. Erst wenn wir die Tür öffnen entscheiden sich Kind und Paket für einen Zustand und erst dann wissen wir, ob das Kind artig war oder nicht.

Verschränkung von Kind und Päckchen
Superposition von einem artigen Kind und einem geschlossenem Paket, und einem unartigen Kind und einem geöffneten Paket. Das Quanten-Kind und das Paket sind verschränkt.

Ihr könntet jetzt sagen: „Ich muss die Tür doch immer erst öffnen, damit ich weiß was in einem Raum passiert ist. Was ist denn jetzt so besonders daran?“ Der Unterschied ist: Auch das Kind weiß nicht, ob es artig oder unartig ist, solang die Tür geschlossen ist. Mir fehlt nicht einfach nur das Wissen, was in dem Raum passiert – es ist noch nicht entschieden.

Schrödingers Katze

Schrödinger stellte dieses Gedankenexperiment 1935 mit Katze und Gift statt Päckchen und Kind vor. Schrödinger setzt in Gedanken eine Katze zusammen mit einem Fläschchen Gift in eine Schachtel. Außerdem befindet sich ein radioaktives Präparat (das Kind) in der Schachtel, das irgendwann zerfallen (unartig) wird. Sobald das geschieht, löst ein Detektor einen Mechanismus aus, der das Giftfläschchen zerstört und die Katze tötet (das Päckchen auspackt).

Schrödingers Katze

Im Gegensatz zu (un)artigen Kindern ist der Zerfall eines radioaktiven Atoms ein rein quantenmechanischer Prozess. Das Atom ist in einer Überlagerung (Superposition) aus zerfallen und nicht zerfallen. Folglich muss auch die Katze gleichzeitig tot und lebendig sein. Auch hier gilt: Erst wenn wir die Kiste öffnen entscheidet sich, ob die Katze tot oder lebendig ist. Das beruht vor allem auf Erfahrung: Noch nie hat jemand eine halb-tote-halb-lebendige Zombie-Katze gesehen.

Quantum-Deutsch / Deutsch-Quantum

Wenn der Weihnachtsmann wieder zur Tür hereinkommt fordert er eine klare Antwort: artig oder unartig. Eine Überlagerung ist keine Option mehr. Und das Spannende ist: das Quanten-Kind entscheidet sich völlig zufällig für eine der beiden Möglichkeiten. Wenn es anfänglich halb artig und halb unartig war, dann wird es das Päckchen mit 50% Wahrscheinlichkeit öffnen. Nichts und niemand auf der Welt – nicht einmal der Weihnachtsmann oder das Kind selbst – könnte vorhersagen, ob das Kind nach dem Öffnen der Tür artig oder unartig sein wird.

Quanten Wörterbuch

Aus physikalischer Sicht ist das Öffnen der Tür eine Messung: Wir messen den Zustand des Kindes. Und Messungen funktionieren nur in der Sprache der klassischen Physik: einer Zeigerposition, einer Zahl auf dem Display, ein Klicken. Ein Detektor kann nicht „ein bisschen“ klicken. Der Weihnachtsmann macht sein Kreuz bei artig oder unartig – niemals dazwischen. Der Messprozess ist, anders gesagt, ein Übersetzer von der Quantensprache in Alltagssprache. Das besondere dabei: die Übersetzung lässt sich nicht umkehren. Bei der Übersetzung wird jegliche Quanteninformation zerstört; Superpositionen, Verschränkung. Übrig bleibt rein klassische Information.

Interpretationssache

Wenn es in der Quantenwelt tatsächlich so abgedrehten Phänomene gibt wie Superposition und Verschränkung, fragte sich Schrödinger, warum beobachten wir sie nie im Alltag? Schließlich ist unsere Welt doch aus Quantenteilchen aufgebaut. Und überhaupt, was hat es mit dem zufälligen Ergebnis der Messung (dem Öffnen der Tür) auf sich? Ist die Quantentheorie nicht deterministisch, sprich, sind die Ausgänge von Experimenten nicht vorhersehbar? Wusste das Quanten-Kind vielleicht schon die ganze Zeit, wie es sich entscheidet; war diese Information nur vor uns verborgen?

Das sind nur einige der Fragen, über die sich Physikerinnen und Physiker wie Schrödinger bis heute den Kopf zerbrechen. Es gibt mehrere Versuche die Phänomene der Quantenphysik zu erklären. Die beliebtesten (bzw. abenteuerlichsten) möchte ich euch jetzt vorstellen.

Kopenhagen Interpretation

Die beste Erklärung ist keine Erklärung

Die Kopenhagener Deutung ist die verbreitetste Interpretation der Quantenphysik. Sie wurde 1927 von unter anderem Niels Bohr und Werner Heisenberg begründet, während sie in Kopenhagen zusammengearbeitet haben – daher ihr Name. Sie war außerdem die erste Deutung der Quantenmechanik und führte zu einem stärkeren philosophischen Denken in der Physik.

Die Kurzfassung der Kopenhagener Deutung lautet: „Halt’s Maul und rechne!“. In anderen Worten: Stell nicht zu viele Fragen und freu dich, dass die Theorie funktioniert. Die Kopenhagener Interpretation besagt, dass der mathematische Formalismus der Quantentheorie keine „reale“ Entsprechung hat. In der klassischen Physik entspricht jedes Formelzeichen einer realen Größe. Das m ist zum Beispiel die Masse eines Körpers. Quantenmechanische Zustände sind hingegen nicht real – ich kann ihn nicht fühlen oder darauf zeigen – sondern sie dienen nur dem Zweck, die Wahrscheinlichkeit für den Ausgang einer Messung zu berechnen.  Der Superpositionszustand des Quanten-Kinds ermöglicht die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der das Kind beim Öffnen der Tür artig oder unartig war. Und damit haben wir uns zufrieden zu geben.

Kopenhagener Interpretation
Kopenhagener Interpretation: Bei der Messung kollabiert die Superposition und übrig bleibt eine der beiden Optionen.

Ensemble-Interpretation

„Im Mittel stimmt’s“

Entsprechend der Ensemble-Interpretation ist die Quantentheorie unvollständig. Das bedeutet, sie kann nicht vorhersagen, wie sich ein einzelnes Quanten-Kind beim Päckchen-Test verhalten wird. Sie kann lediglich voraussagen, wie sich eine große Gruppe von Kindern im Durchschnitt verhalten wird. Diese Interpretation ist nicht sehr beliebt, da wir uns eine vollständige Quantentheorie wünschen. Also eine Theorie, die auch das Verhalten einzelner Teilchen vorhersagen kann. Ein bekannter Befürworter der Ensemble-Interpretation war übrigens Albert Einstein – der große Kritiker der Quantentheorie, für den es völlig in Ordnung wäre, wenn sich die Quantentheorie als unvollständig entpuppt.

Ensemble-Interpretation
Ensemble-Interpretation: Die Quantenphysik kann nur vorhersagen, wie sich eine Gruppe von Kindern verhält – nicht jedoch ein einzelnes.

Viele-Welten-Interpretation

„Sind wir allein?“

Über diese Theorie wird sich wohl am häufigsten lustig gemacht. Sie besagt, dass im Päckchen-Test beide Fälle eintreten, dass das Kind also tatsächlich artig und unartig ist. Das entspricht jedoch nicht unserer alltäglichen Beobachtung, dass Pakete nur offen oder zu sein können. Doch es gibt eine einfache Lösung: Unsere Realität spaltet sich in zwei Welten auf. Eine, in der das Kind artig ist, und eine, in der es unartig ist. Verständlicherweise ist diese Theorie sehr kontrovers diskutiert – es klingt einfach absurd – doch widerlegen konnte man sie bisher nicht.

Viele-Welten-Interpretation
Viele-Welten-Interpretation: Bei der Messung teil sich die Welt in zwei neue Welten auf, in der je ein Messergebnis real ist.

Transaktionsinterpretation

„Der Handschlag mit der Zukunft“

Diese Theorie kann der Viele-Welten-Interpretation in Sachen Verrücktheit das Wasser reichen. Sie erklärt quantenmechanische Wechselwirkungen durch Wellen, die in der Zeit vor- und zurücklaufen. Wenn zwei Teilchen wechselwirken, senden sie beide Wellen sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit aus. Diese Wellen überlagern sich und die Teilchen machen eine Art Handschlag durch die Zeit. Das Kind von Jetzt sendet eine Welle aus, die sich mit der Welle des Päckchens aus der Zukunft überlagert. Sie interferieren und übrig bleibt ein Messergebnis: das Päckchen ist offen oder zu.

Der Grund, warum das für uns so merkwürdig klingt, ist, dass wir „in der Zeit“ stehen. Aus unserer Perspektive ist die Zeit asymmetrisch. Wir können nur nach vorn gehen, aber nicht zurück. Steht man jedoch außerhalb der Zeit ist alles ganz easy. Wenn euch jetzt der Schädel brummt und ihr denkt „Hä?“ – lasst euch versichern, ihr seid nicht allein (es gibt sicher eine andere Welt, in der du genauso verwirrt bist wie… du).

Transaktionsinterpretation
Transaktionsinterpretation: Zukunft und Vergangenheit interferieren und erschaffen die Gegenwart.

Klare Ergebnisse dank Rauschen

Kommen wir vom Wunderland hinter den Spiegeln zurück zu unserem Päckchen-Test. Es gibt eine einfache Erklärung, warum wir im Alltag keine Superpositionen erleben. Es ist ähnlich zu dem Grund, warum Pendel nicht für immer schwingen und ein Perpetuum Mobile nicht existiert. Der Grund ist: Ein System ist niemals komplett von seiner Umgebung abgeschlossen. Überall gibt es Rauschen, Wärme und Reibung. Das quantenmechanische Gegenstück heißt Dekohärenz.

Kohärenz ist notwendig, damit das Quanten-Kind überhaupt in einer Überlagerung aus artig und unartig existieren kann. Dekohärenz ist das Gegenteil: sie macht die Überlagerung kaputt. Dekohärenz passiert immer dann, wenn das Quanten-Kind gestört wird. Wenn ich es zum Beispiel so lange mit einem Stock piekse bis es entweder ausrastet (und unartig wird) oder mich höflich bittet aufzuhören (und artig wird). Das Kind im Zimmer mit dem Geschenk hört vielleicht Schritte vor der Tür und es bleibt artig, weil es erwartet, dass der Weihnachtsmann zurückkommt.

Dekohärenz erklärt, warum wir Alltagsgegenstände – wie Kinder, Pakete oder Katzen – nie in einer quantenmechanischen Überlagerung finden. Luftmoleküle, Schallwellen, Wärmestrahlung – all das wirkt auf die Objekte und zerstört Superpositionen, noch bevor sie entstehen. Ein Objekt ist umso anfälliger für Dekohärenz, je größer es ist. Daher finden wir radioaktive Atome und Photonen in Superpositionen, Katzen und Geschenkpäckchen aber nicht.


Der Punkt, den Schrödinger mit seinem Gedankenexperiment machen wollte, ist schlicht gesagt: Es ist nicht einfach, die Quantenphysik mit unserer alltäglichen Erfahrung in Einklang zu bringen. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Keine der Interpretationen ist richtig oder falsch. Wir können Gott (oder dem fliegenden Spaghetti Monster) nicht in die Karten gucken und herausfinden, was dahintersteckt. Eines Tages findet ein Genie vielleicht ein Experiment, das alle Theorien bis auf eine endgültig zerschlägt. Doch bis dahin bietet die Quantenphysik Raum für tiefgründige, philosophische Gespräche bei Glühwein und Keksen, die vielleicht im Päckchen des Weihnachtsmanns versteckt waren.


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Quellen:
Details zur Transaktionsinterpretation

5 thoughts on “Schrödingers Weihnachtspäckchen

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